„Ich hatte den Wunsch, auf dem Lande leben zu wollen, was gesünder und ökologischer ist als die Stadt.“

Wir beginnen das Interview mit dem Jahr 1989, einer Zeit mit großen Veränderungen. Damals hatte sie gerade die Schule abgeschlossen und begann ihr Medizinstudium. Die Wende brachte viel Neues mit sich und zu diesem Zeitpunkt war auch noch nicht klar, wo es einmal hingehen sollte. Was Mama jedoch schon wußte, war, daß sie eine Beziehung und Kinder haben wollte.

Beim Studium lernte sie dann meinen Papa kennen und sie heirateten. Anfang 1991 gebar Mama ihr erstes Kind, mich, Julia. Noch studierte sie und besuchte auch interessante Vorlesungen, die ihr Anregungen in Bezug auf ihre Lebensgestaltung gaben. Sie las viel, hatte Vorbilder, und nach und nach entwickelte sich der Wunsch, auf dem Lande zu leben, was gesünder und ökologischer sei als die Stadt. Dieser zunächst abstrakte Wunsch wurde bald durch einige bestimmte Ideen präzisiert. Mama und Papa waren sich einig, dass sie nicht allein wohnen und nach einer Alternative zu der üblichen Kernfamilienstruktur suchen wollten.

In der darauffolgenden Zeit sprachen Mama und Papa mit vielen Freunden und Bekannten über ihre Vorstellungen und begannen, mit einigen von ihnen um Berlin herum nach Höfen und Häusern zu schauen. Schnell wurde jedoch klar, dass diese Gegenden das Budget sprengen würden. Es kamen weitere Einflüsse zur Ideenentwicklung durch Freunde, Bekannte und anderen Gemeinschaften mit ähnlichen Zielen. 1992 besuchten Mama und Papa die Kommune „Longomai“ in Frankreich – eine Möglichkeit, ihre Vorstellungen umzusetzen. Diese Gruppe war jedoch auch politisch orientiert, was nicht ihren Zielen entsprach. Aus den gemeinsamen Diskussionen, dem Austausch von Vorstellungen und der Suche nach entsprechenden Höfen bildete sich eine feste Gruppe, die gemeinsam nach einer neuen Wohnstatt suchte und sich den Namen "Brennessel e.V." gab. Unter anderem aufgrund der Kosten ging die Suche immer weiter in Richtung Osten.

Natürlich gab es, was die Auswahl betraf, immer wieder Unstimmigkeiten. Manchmal schien es, als hätten sie das Richtige gefunden, doch dann stimmte entweder der Preis nicht oder Mitglieder der Gruppe waren nicht einverstanden, bis schließlich und recht plötzlich Wallmow gefunden wurde, wo die Hälfte eines ehemaligen Gutshofes zum Verkauf stand. Zwei bis drei Monate später war der Vertrag auch schon abgeschlossen und im Frühling 1994 zog das erste Paar ein. Für unsere Familie war Wallmow nun ein Wochenendaufenthaltsort.

Unseren ersten Familienurlaub verbrachten wir hier im Mai 1994; alle Mitglieder, die noch nicht in Wallmow wohnten, teilten sich zu diesem Zeitpunkt eine Wohnung. Für Mama war Wallmow jetzt ein Versprechen für die Zukunft, das allerdings auch Mühsal und Angst bedeutete, also ein gewisses ambivalentes Gefühl hervorrief. 1995 nahm Mama dann an einem Yoga-Wochenende teil, bei dem ein Programmpunkt eine Zeitreise war, die verschiedene Zukunftsetappen beinhaltete. Bei dieser visuellen Reise wurde für Mama klar, dass sie in fünf Jahren in Wallmow leben würde. Zum ersten Mal in ihrem Leben empfand sie etwas so klar. Sie nahm es als solches hin und ab jetzt war klarer, daß der Weg hierher führen würde, wenn auch noch nicht klar war, wie genau das funktionieren würde. Denn dazu gab es kein Modell oder Vorbild, nach dem man sich richten konnte.

1996 war Mama das dritte Mal schwanger, während sie immer noch als Arzt im Praktikum arbeitete. Trotzdem gab es jetzt schon eine konkrete Suche nach Terminen für den Umzug. Im Juni 1997 wurde Justus geboren. Der Umzug nach Wallmow rückte immer mehr in greifbare Nähe und unter anderem durch Druck von Mama wurde schließlich ein Umzugsdatum festgelegt: der 26.Juli 1998. Parallel dazu stellte sich die Frage, auf welche Schule ich (und später auch meine Schwester Swantje) gehen sollten. Für Mama kamen weder Brüssow noch Klockow in Frage und so war es ein Glück, daß gerade zu diesem Thema sich andere schon Gedanken machten – Mama stieg in die Organisationsgruppe der freien Schule Wallmow ein. Dieser Schritt, so sagt sie, hatte etwas damit zu tun, selbst Verantwortung zu übernehmen. Zum Schulanfang 1998 war ungefähr die halbe Wohnung fertig und es blieb weiterhin viel zu tun. Zu Begegnungen und Aufnahme durch die schon vorher hier wohnenden Menschen gab es von Mamas Seite aus gar nicht viel zu erzählen. Generell war durch uns Kinder und die Wohnung viel zu tun und es gab eher spärliche Kontakte zu „eingesessenen“ Dorfbewohnern, zumal wir ja auch mit mehreren Familien auf einem Hof wohnten. Allerdings erreichten auch Mama einige Gerüchte, die man sich im Dorf erzählte: demnach spielte Papa die ganze Nacht Gitarre, um dann bis mittags zu schlafen, und eine Schwitzhütte im Schnee gab Anlass, zu vermuten, auf dem Brennesselhof würde Gruppensex betrieben.

Zurück Seite nach oben