Ich hatte gedacht, dass es einfach ein verlassenes Dorf ist. Es war ganz anders. Haidemühl.
Spärliches Gras wuchs auf einer überdimensional planierten Fläche. Am Horizont eine Reihe verlassener roter Backsteinhäuser und zwei Fabrikschornsteine. Rund und riesig. Zwischen altem Kopfsteinpflaster der Hauptstraße provisorisch mit Asphalt gefüllte Schlaglöcher. Vom Bürgersteig blieben nur noch die Bordsteinkante und ein Sandweg übrig. Das neue Betonverbundpflaster war herausgerissen und geklaut. Auch die Gullydeckel fehlten. Dafür schwamm Spielzeug aus den frühen Kindertagen in den Löchern. Junge Linden blühten am Straßenrand. Von hier aus sahen die Häuser traurig und verwildert aus. Zwischen Doppelhaushälften ragten Antennen auf verrosteten Stahlmasten steil in den Himmel. Gebrauchen kann die ja heute keiner mehr. Fenster und Türen lagen herausgerissen dort, wo einst Studentenblumen und Astern blühten. Überall Dinge im Gras ohne Wert, Gerümpel: linker Handschuh mit Schnecke, Besen ohne Borsten, knallgrüner Wäschekorb mit Sprung, verschimmelte Matratze, ein trüber Monitor, Untertassen, dies und das. Die Koniferen wuchsen scheinbar unbeindruckt. Alles Private war offen und einsehbar. Manche Klingeln trugen noch die Familiennamen. Im Hausflur welkte die Holztapete von der Wand. In einer Gardine verfitzte Lampenkabel hingen von der Decke herab und bewegten sich rythmisch im Windzug. Die Öfen hatten ihr braunes Inneres nach Außen gekehrt. Scherben knirschten unter den Schuhen. Es roch muffig nach kalter feuchter Asche. Von der Kinderzimmerwand grüßte eine riesige rote Micky-Mouse. Im alten Holzschuppen der Aufkleber: "Ein Herz für Kinder". Die gibt es hier schon lange nicht mehr. Jemand hatte mit weißer Farbe den lakonischen Satz auf die Teerpappe gekritzelt: "Braunkohle hat gesiegt-Hure".
Es kam mir so vor, als sei es eine Filmstadt. Neu-Haidemühl.
Besucher sind hier herzlich willkommen. Extra für sie gibt es einen hohen Aussichtsturm am Eingang des Dorfes, um herrlich in die Gärten blicken zu können, wie in eine Puppenstube. Zeltähnlich, trapezförmig abgespannte Stahlnetze sind bedruckt und zeigen weithin das alte Glaswerk mit seinen zwei Schornsteinen. Noch steht es ja. Eine Blechtreppe windet sich um einen, von roten Seilen gehalten Masten, hinauf zu einer Plattform. Oben windet es mächtig, der Turm wankt. Zu stark, um zu fotografieren oder gar zu filmen. An der großen Straße entlang stehen mehrstöckige Häuser. Glas, Metall, Plastik. Modernistisches aus dem Archiv des Architekten. Davor überstrecken eifrig alle Straßenlaternen im Gleichschritt ihren Arm. Überall verstreut Neuanpflanzungen, die sich auf hölzerne Dreibeine stützen zwischen die ein gelbes Drainrohr in der Erde verschwindet. An den Kreuzungen regeln Verkehrsschilder die Vorfahrt auf der menschenleeren Straße. Sonst gilt Rechts vor Links. Rote neue Klinker verblenden das Dorfgemeinschaftshaus, dessen riesige getönte Scheiben die schweren Regenwolken am Himmel spiegeln. Gewiss sind gerade alle Neu-Haidemühler zur Ortsbeiratssitzung im Bürgerhaushaus. Nur auf der gegenüberliegenden Seite zeigen sich am Fenster drei Kinderköpfe hinter der Gardine. Der Edeka ist geschlossen. Auf dem mehrreihigen Parkplatz kein Auto. Allein der Zeitungsaufsteller der "Bild" steht selbstvergessen und wartend am Eingang. Ein paar Seitenstraßen lassen uns ums Karree laufen. Vorbei an schmiedeeisernen Zäunen, die kurz geschnittenen Rasen mit einigen Blümchen bewachen. Die Häuser, der Rollrasen, die Wasserspiele wie aus den Immobilienanzeigen der Sparkasse oder der Glückslotterie im Fernsehen. Es steht einfach nichts weiter in den Gärten. Alle sind total leer. Bis auf einen, dort steht ein kleiner Pavilion - ein kleines blaues Hüttlein, ein Planschbecken und ein Klettergerüst mit Schaukel und Rutsche aus Plastik. Vom Baumarkt. Abseits wirbt ein Schild mit lächelnder Familie für brachliegendes Bauland. Für alle ohne "Großem Los". Kinder sehe ich keine. Der Satz auf der Teerpappe geht mir durch den Kopf.
c.m. und d.b.
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